Der nüchterne Kant konnte über die Geschlechtlichkeit des Menschen nur staunen, über dieses Sakrament, diese Hilfe füreinander, wie sie die Schöpfungsgeschichte nennt. Eine Sammlung von Liebesgedichten, das "Lied der Lieder", hat einen zentralen Platz in der Bibel.
Und doch erweist sich die göttliche Erfindung der Sexualität immer wieder als Desaster. Nicht zuletzt in der Kirche, auf allen Kontinenten; und im Internetzeitalter werden theologisch verbrämte sexuelle Not und Nötigung und ihre Folgen schnell ruchbar, sodass nun viele, denen das Evangelium Richtschnur ist und Lebenssinn, die Welt nicht mehr verstehen.
Die Liebe – Kern der Sexualität – brennt immer, Feuer, das keine Flut löschen kann. Leib und Geschlecht sind eine ewige Frage an den Menschen. Jedem und jeder ist die Aufgabe gestellt, eine Antwort darauf zu finden – auch der Kirche, die das “Leben in Fülle” predigt.
Eine Antwort heißt Laisser-faire, Libertinage, “ausleben”. Ein Wort wie herabgezogene Mundwinkel. Und zugleich ein riesiges Fragezeichen, selbst ein Riesenproblem. Diesen Sommer hat der Präsident eines großen EU-Landes ausgesprochen, was man lieber nicht wissen will, nämlich: “In jeder Schulklasse sitzen zwei-drei Kinder mit Inzest-Erfahrungen”, für ihr Lebtag gezeichnet. Und Wikipedia zufolge mache die Sex-Industrie allein in den USA mehr Profit als Hollywood; im World Wide Web führe ein Drittel aller Clicks auf eine Porno-Seite.
Angesichts solch neuer Versklavung und Aufgeilung lautet die “fromme” Alternative: Zum Teufel mit dem Erotischen, mit Begehren und Sehnsucht! Nur dass es durch die Hintertür noch schlimmer wieder zurückkommt, als Autoritätsmissbrauch, Verführung, Lüge und Unglaubwürdigkeit. Wir erleben es gerade.
Lustprinzip oder Askese? Weder das Eine noch das Andere wird der Sexualität gerecht, beide sind keine Lösung. Und sie hängen zusammen. Denn was der Asket, der den eigenen Körper straft, was der Wächter über den Körper Anderer, was der Verführer und was der Vergewaltiger im Auge haben, sind näher besehen - sie selbst. Würden sie den Blick heben auf das “Objekt der Begierde”, frei und offen, so würden sie den Menschen erkennen, seine Lebensgeschichte und Bestimmung. Und Befriedigung wie Verdammung der “sexuellen Bedürfnisse” bekämen sofort ein anderes Gewicht; nötige Verzichte würden leicht. Wozu heroische Asketen? Wozu Don Juans? Was fehlt, sind Liebende.
Das Dauerfeuer der Geschlechtlichkeit brennt unabhängig von Alter, Gesundheit, Stand, Aussehen, Besitz, Tradition. “Der Verzicht auf die Zärtlichkeit einer Frau, das war für mich ein Dauerschmerz, jeden Tag, das Leben lang”, sagte der alte Abbé Pierre, der die Obdachlosen in den Pariser Straßen nicht übersehen konnte und “Emmaus” gründete. Jede und jeder ist berufen, die Lebensform zu finden, in der seine Geschlechtlichkeit wärmt statt schadet. Einst war die Ehelosigkeit von Weltpriestern eine solche neue Form, sie sollte dem Pfründewesen ein Ende setzen. Heute leben viele zölibatär, die mit der Kirche nichts am Hut haben, in ihren Berufen, als Lehrerin, Pfleger, Politikerin, Ärztin. Oft ist Ledigkeit eine Phase im Leben (erstaunlich, dass man diese Möglichkeit in der Kirche nicht erwägt). Auf der anderen Seite: Warum das Wegschauen, wenn eine Ehe ein Gefängnis ist? Oder die Häme unbesehen über die, die in Liebe, Verantwortung, auch Not, ein “Verhältnis” eingehen? Warum der soziale Tod für die Minderheit liebender Homosexueller? Warum bitter und neidisch, ein:e Aufpasser:in werden, wenn einem selbst Krankheit oder andere Umstände ein asexuelles Leben abverlangen?
Die Geschlechtlichkeit ist nicht dazu da das Leben zu vergiften. Sie erinnert mich immer wieder an die nötige kopernikanische Wende, an die Ausrichtung auf das, was dem Leben Sinn gibt. Es heißt “Du”.
Kommentar, erschienen im Vorarlberger Kirchenblatt am 23. November 2023. Zuletzt war im Nachbarland Schweiz - dank einer Untersuchung durch unabhängige Wissenschafter:innen im Auftrag der Schweizer Bischofskonferenz - jahrzehntelanger sexueller Missbrauch durch zölibatäre Kleriker in etwa tausend Fällen publik geworden.
Als Illustration wählte der Redakteur, Wolfgang Ölz, einen Ausschnitt aus dem spätmittelalterlichen "Paradiesgärtlein" eines unbekannten Malers (Städel, Frankfurt). Hier noch ein Ausschnitt aus der Korrespondenz mit ihm:
Die Männergruppe im mittelrheinischen Garten Eden hab ich bis jetzt nicht recht beachtet, mehr den kleinen Drachen, schlafend eher als getötet, den Affenteufel, den gekappten und wieder austreibenden Weidenstamm, die Erdbeeren. Dabei ist die Gruppe - besonders im Vergleich zu den Frauen auf der anderen Gartenseite - sehr auffällig komponiert: Der Engel (? Michael, wegen des nach wie vor grimmigen, aber machtlosen Teufels zu seinen Füßen), Laurentius (? wegen der Diakon-Stola, aufrecht, auch wenn er sich am Stamm hält) und, im Gras sitzend in zeitgemäßer Rüstung, Ritter Georg. Der heilige Drachentöter vulgo Perseus richtet aus dieser Gruppierung heraus seinen Blick auf die Frau in der Bildmitte. Er ist der einzige, der den Blick hebt, alle anderen schauen demütig, mit gesenkten Lidern*.
Sie, natürlich angezogen - wie es auch die schwarzhäutige Andromeda der Urfassung des heidnischen Mythos war, soviel man weiß -, erwidert den Blick des Befreiers nicht. Sie ist die Madonna, in das Buch vertieft, in das Wort, das dank ihr Realität wird / wurde / geworden ist / werden wird, Fleisch bekommen wird. Sie schaut nicht auf. Und doch (bemerke ich erst jetzt) dreht sich das ganze Bild sozusagen um die Achse die männlichen Blicks auf die Frau. Die beiden anderen Männer (nur der Engel hat einen Heiligenschein) sind nämlich nicht am Plauschen mit dem edlen Ritter - ein solcher zu werden, war Franz von Assisis Jugendtraum -, sondern verfolgen gespannt den Augenkontakt ihres Genossen. Und hinter der lesenden Maria, ganz bei sich, hingebungsvoll beschäftigt wie die anderen drei Frauengestalten (bei den Männern ist es, als hätten sie ihre arebeit hinter sich), wird der ritterliche Blick zugleich aufgefangen und seine Richtung unterstrichen durch das abschließende Eck in der Umfassungsmauer des Gartens.
Insofern hast du recht, es wäre doch ein passendes, ein Bild voller Eros, voll von der Liebe, die Geschlechtlichkeit und ihren Sinn nicht ausschließt, das Wissen um gegenseitige Befreiung, Aufeinanderangewiesensein. In jedem Leben, Gott sei Dank.
*höchstens, dass der Engel neben Sankt Georg auch einen selbst im Auge zu haben scheint, den Betrachter