Heinrich Spaemann im Wienerwald
Beitrag zum Ebner Tag in Gablitz, 15. Mai 2025
„Ich liebe den Zufall, hinter dem Gott lächelt.“ An dieses Wort (eines österreichischen Benediktiners) muss ich denken, wenn ich der Einladung folge und an diesem Tag, der Ferdinand Ebner und seiner Einsicht in die Wirklichkeit von Ich und Du gewidmet ist, einen Mann vorstelle, in dessen Nachlass ich bis jetzt keine direkte Auseinandersetzung mit Ebner gefunden habe. Trotzdem hängt er auf das Engste mit dem heutigen Tag zusammen. Ich soll Sie auf die Gestalt Heinrich Spaemanns hinweisen.
Spaemann war mehr als vierzig Jahre lang Seelsorger im Vianney-Hospital in Überlingen am Bodensee, einem Zentrum für psychisch Kranke. Er hat eine ganze Generation von Seelsorger(inne)n geprägt durch sein Beispiel, durch seine Art, seine Exerzitien und durch eine Reihe von Publikationen, von denen zwei im Lauf seines langen Lebens öffentlichen Anstoß erregten.
„Vianney“ - ? Als das Wort fiel, ich weiß nicht mehr in welchem Zusammenhang, wurde Herbert Limberger, jetziger Präsident der Internationalen Ferdinand-Ebner-Gesellschaft, hellhörig. Denn P. Patrice Chocholski, am Vormittag hier unter uns bei der Präsentation der ersten französischen (von ihm herausgegebenen) Übersetzung von „Das Wort und die geistigen Realitäten“, war schließlich, bevor er nach Marseille kam, einer der Nachfolger im Amt des bekannten, heiliggesprochenen Pfarrers und Beichtvaters von Ars bei Lyon.
Der zweite Pfeiler der Brücke von Überlingen nach Gablitz bei Wien, dem Wohn- und Wirkungsort Ebners, ist die Tatsache, dass Spaemann (1903 geboren, als fast Hundertjähriger gestorben, meine zweite Frau hat ihm mehrmals tagelang den Haushalt geführt, meine erste einen Kalender mit Mehrfarbendrucken zu Zitaten aus seinem Hauptwerk gestaltet); dass der gebürtige Westfale zuerst Kunstgeschichte und Philosophie studierte, in Berlin und Dresden, und vor allem am Weimarer Bauhaus. Dorthin hätte Ebner berufen werden sollen, wenn es nach Johannes Itten und Josef Matthias Hauer gegangen wäre (dem zweiten Entdecker der Zwölftonreihe und zeitweiligen Freund Ebners - er hat die Reinschrift der „Pneumatologischen Fragmente“ angefertigt).
Jung heiratete Spaemann eine Schülerin der Ausdruckstänzerin Mary Wigmann. Diese Lebensphase ist mindestens archivalisch greifbar insofern als Spaemann, Redakteur der Berliner „Sozialistischen Monatshefte“ (1933 verboten), jahrelang die Entwicklung besonders der damals neuen Medien – Film, Radio, Tanz – und die Entwicklung und sozialen Hintergründe der Architektur kritisch und kenntnisreich kommentierte. Sohn Robert wurde Philosoph, ein Freund Ratzingers, des nachmaligen Papstes. Eine Urenkelin werden vielleicht manche kennen, es ist Marie Spaemann, die Wiener Cellistin, Komponistin und Sängerin. Heinrich hat sie auf den Knien geschaukelt. Mit seiner Frau trat er mitten in der NS-Zeit in die katholische Kirche ein (in der Abtei Gerleve). Ehe sie bald darauf jung starb, sagte er ihr, er wolle Priester werden, und wurde es auch; ein Traum der Kindheit erfüllte sich für ihn.
Aufgerüttelt hat der ebenso freundliche wie gründliche Theologe Spaemann die Öffentlichkeit durch seinen am Ende öffentlichen Einspruch gegen die Stationierung US-amerikanischer Langstreckenraketen mit atomaren Sprengköpfen auf deutschem Boden. Die deutsche Bischofskonferenz hatte diese zwar nicht gutgeheißen, aber genehmigt. (Ehe es zu spät ist, 1984). Er erneuerte damit die Zurückweisung jeglicher Art von Kriegstreiberei im globalen Zeitalter durch Johannes XXIII. („Pacem in terris“) - zum Missfallen vieler „christdemokratischer“ Kreise.
Im hohen Alter schließlich widerstand er - wiederum auch öffentlich - der eigenen Kirchenleitung, als sie den Dialog mit den ‘Ortskirchen’ (wie man sie innerkatholisch nennt) abbrach und ihre aus den Evangelien und der Überlieferung abgeleitete Vollmacht zur Ernennung von (Diözesan)Bischöfen über die Köpfe – vor allem aber über die Herzen und buchstäblich die Leiber - von katholischen Christ(inn)en hinweg missbrauchte. (Was macht die Kirche mit der Macht?, 1993). Der eigene Sohn, im engsten Kreis wie gesagt des damaligen Kurienkardinals Ratzinger, hat soviel mir bekannt ist, nicht verhindert, dass die erste, bei Herder erschienene Auflage dieser „Denkanstöße“ aufgekauft wurde und vom Buchmarkt verschwand.
Heinrich Spaemann hat zeit seines Lebens – lang vor der Konzilserklärung „Nostra aetate“ - den Dialog mit dem Judentum geführt. Die geistige Bedeutung und Praxis der Schabat-Ruhe wurde ihm wichtig und ist Thema mehrerer Schriften.
Orientierung am Kind heißt das Hauptwerk des Zuhörers, Denkers und Autors. Das „Büchlein“ erschien erstmals Anfang der Siebzigerjahre, zuerst im Verlag von Hans Urs von Balthasar (der Name des Basler Theologen dürfte im Kreis der mit der Ebner-Rezeption Vertrauten nicht ganz unbekannt sein). Allein schon der Titel ist ebnerisch. Ebners nicht zuletzt in den Tagebüchern man möchte sagen aufstrahlende Wahrnehmung der Kinder, wie die wir werden sollen nach Jesu Wort – der Schulkinder zuerst, dann des eigenen Sohnes Walther – steht sozusagen Pate bei diesen eindringlichen „Meditationsskizzen zu Mt 18,3“ (so der Untertitel). Hören Sie Spaemann selbst. Hier einige Sätze aus den 37 Gedankengängen von „Orientierung am Kind“:
Kinder strahlen. … Weil sie aufschauen. Oben ist es hell und weit. Hell und weit, so ist auch das Kindergesicht. Was einer mit dem Herzen sucht und sieht, das schreibt sich in sein Angesicht.
Was wir im Auge haben, das prägt uns, dahinein werden wir verwandelt. Und wir kommen, wohin wir schauen.
Das Kind ist ganz Auge. In der heutigen Welt tritt das Fotoobjektiv geradezu an die Stelle des eigenen Sehens. Das Schauen ist kein Anliegen mehr, sondern das Haben, das Habhaftwerden des Gesehenen, das Darüber-verfügen-können zu irgendeinem Zweck, einem Renommierzweck, einem Unterhaltungszweck, einem Propagandazweck, einem Wissenszweck, einem wirtschaftlichen Nutzen, einem Machtzweck, einem Geldzweck … Den Hintergrund, den Sinn, das Ganze nimmt nur der Absichtslose wahr. Können wir noch so schauen? Erkennen wir auch darin Nachfolge Jesu? …
Es gibt einen Zeitgewinn, der Ewigkeitsverlust ist. Und es gibt einen Zeitverlust, der Ewigkeitsgewinn ist.
Wer aufhört, ein Kind zu sein, sieht nur mehr Aufgaben, die er hat.
Man erkennt nur wirklich, was man auch tut.
Nicht konkret lieben, bloß mit dem Kopf oder mit der guten Meinung lieben, nicht herzlich, überströmend, freudig aufblickend, menschlich lieben, bedeutet wenig lieben.
Das Kind liebt Besuch. Es besucht gern und will besucht sein. Es überrascht gern und will überrascht sein. Es versteckt sich, um gefunden zu werden. Es geht auf Suche, um zu finden.
Ein erlöster Mensch ist ein spielendes Geschöpf im Strahlenkreis des Geliebtseins.
Ich habe noch kein lebendiges Kind gesehen, das in seinem Zimmer immer eine musterhafte Ordnung gehabt hätte.
Was nicht Heimlichkeit der Liebe ist, ist Heimlichkeit des Diebes.
Das Kind schaut auf. Zum Briefträger sieht es nicht weniger auf als zum Bischof. In seinen Augen steht der Mensch höher als der Stand.
Das Kind wächst, es wird ein Erwachsener, nur eines wächst bei ihm nicht mit, das Auge. … Wie sehr sich auch die Gestalt unseres Lebens verändert, Gott will, dass wir das Auge des Kindes behalten, dass wir aufschauen, nicht herab.
Balthasar hält Heinrich Spaemann aufgrund dieser das Jesus-Wort in ungewohnter Weise entfaltenden Meditationen für einen der Theologen, die bleiben werden.
Gern hätte ich diesen Hinweis - zu mehr fühle ich mich nicht berechtigt - mit einer kleinen autobiographischen Erzählung Spaemanns abgerundet, die eine bessere Verständnishilfe sein könnte als jede philosophisch-theologische Einordnung. Sie trägt den Titel „Der wiedergefundene Vater“ - wie eine unverhoffte Erhellung des Gewissensproblems, das Ebner immer wieder anspricht. Denn auch das Erzählen ist ein Weg zu dem, was zählt. Aber es gilt, den Rahmen dieses Tags mit seinen vielfältigen Eindrücken und Weisungen nicht zu sprengen. Danke, dass Sie dem wie Ebner bedachtsamen, in ähnlichem Zeitgrund verwurzelten Seelsorger Heinrich Spaemann Ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben.