Kultur in schwieriger Zeit. Ein Kommentar

Es herrscht Begriffsverwirrung. Folge und Nutzen werden für den Beweggrund gehalten. Der Zweck heiligt das Mittel nicht einmal mehr, es ersetzt ihn: Der Wald liefert Hackschnitzel und möglichst astfreie Bretter. Der Fußballclub lukriert Gelder um Trainer und Spieler zu verpflichten, die gewinnen. Die Bedeutung von Medien bemisst sich an Abonnentenzahl bzw. Auflage. Die Kultur bringt Touristen ins Land und schafft Arbeitsplätze.

«Die Kultur»: Das Coronavirus hat den Sammelbegriff neu definiert. Nun bezeichnet er Verschiedenes, dessen Ausübung nicht systemrelevant und ansteckend ist. Wer Kunst schafft und ermöglicht, deckt keinen Bedarf ab. Die Frucht künstlerischer Arbeit hat keinen in Geld- oder Zeiteinheiten fassbaren Marktwert außer dem, den Beteiligte ihm verleihen.

Die Kultur, die Kunst: Das Zwecklose, Spielerische und Unbezahlbare, der Sektor, auf dem Produkt und Leistung nicht zu messen und nicht börsentauglich sind, geschenkt. Und wie alles Geschenkte, wie die Natur oder Kinder zum Beispiel, bringt sie auch Arbeit und Kosten mit sich.

Die Regierung des Landes Vorarlberg hat «in dieser schwierigen Zeit» den Kultur-Anteil am Budget für das Jahr 2021 auf 1,19% oder 23,4 Millionen Euro gesenkt; eine «unabwendbare» Kürzung. Parallel dazu hat sie laut Pressekonferenz am 2.2.2021 «30 Millionen zusätzlich in die Vorarlberger Bauwirtschaft investiert und damit das Jahresbudget in diesem Sektor auf insgesamt 150 Millionen Euro erhöht».

Als der Theatermacherin, Projektleiterin, Journalistin (Selbstbezeichnung «Möglichmacherin») Brigitta Soraperra diese Parallele zwischen unabwendbarer Kürzung hier und selbstverständlicher Erhöhung dort bewusst wurde, blieb ihr nach eigenen Worten «die Spucke weg». Sie schrieb Anfang April einen offenen Brief an die zuständigen PolitikerInnen, die es laut Regierungsprogramm übernommen haben, «gute Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur zu schaffen». In dem Schreiben verlangt sie «angemessene, auch pekuniäre Wertschätzung» der Arbeit von Kulturschaffenden, mit der sie «nicht nur zur finanziellen Wertschöpfung, sondern auch wesentlich zur psychischen und physischen Gesundheit der Bevölkerung beitragen», und «sinnvolle, ausreichend dotierte Maßnahmen», damit sie nicht länger «Bittstellerinnen» sein müssen.

Dabei deutet sie wohl um des lieben Friedens willen etwas Wesentliches nicht einmal an: Dass nämlich Wirtschaftlichkeit und gesellschaftlicher Nutzen von Sektoren, die man freigebig subventioniert nach dem Lockdown, durchaus in Frage stehen. Schon seit langem, unabhängig von der Krise. Ein paar Stichworte müssen genügen: Die in ungeheuerlichem Tempo stattfindende Versiegelung und Zerstörung wertvollen Bodens; die absolute Priorisierung des Wirtschaftswachstums; die Massenproduktion und -konsumption von Ramsch, mit dem wir den Planeten zumüllen; die fraglose Industrialisierung der Landwirtschaft mit ihren Auswirkungen auf Mensch, Tier und Klima; Wegwerfindustrie statt sinnvoller Wiederverwendung, Erhaltung und Reparatur, vom Bergschuh bis zum Einfamilienhaus, vom Fahrradreifen bis zum Hochleistungscomputer. Oder Tourismus, der nicht Bewegung und Begegnung im Sinn hat, sondern reinen Profit, gezogen aus vergewaltigter Natur.

Der Einschub sei erlaubt: Der Vorarlberger «naive» Künstler Otmar Burtscher (1894–1966) hat exakt diese Tendenzen schon vor siebzig Jahren diagnostiziert. In seinen Aufzeichnungen wundert er sich, was denn an Gier nach Gewinn und Beschleunigung ökonomisch sein soll; viel ökonomischer sei die Pflege des Schönen in seiner Vielfalt und die Sorge um Haus, Garten und Sonntag. Mit anderen Worten: Ökonomie ohne Kultur hat keinen Sinn.

Brigitta Soraperra hat einen mutigen Brief geschrieben und adressiert an die Landesrätin für Kultur und den Landeshauptmann von Vorarlberg, die über Fördergelder und Subventionen des Landes entscheiden. Gut hundert KünstlerInnen, KulturvermittlerInnen, Kulturschaffende haben binnen kurzem und ohne Werbung mitunterschrieben. Nicht um Korruption anzuklagen, Unzuständigkeit oder fehlendes Wohlwollen, sondern damit Verantwortliche, gewählt oder bestellt, merken, was ihre gewiss mehrheitstaugliche Politik bedeutet: Die Abwertung und Beschädigung dessen, was keinen Preis hat und haben kann. Denn wer meint, das Gesetz von Angebot und Nachfrage und die Magie der Selbstregulierung gelte auch am Kultursektor, der halte sich Bilder, Textiles oder Bücher vor Augen, die unerschwinglich waren vor relativ kurzer Zeit und heute unter dem Materialpreis gehandelt werden, wenn überhaupt.

Ohne großes Aufsehen, hat man gemeint (wohl nicht nur in Vorarlberg), könne das Budget für Kunst und Kultur gekürzt werden: Schließlich werden die KünstlerInnen ja doch stillhalten. — Was sollen sie auch Anderes tun? «Wir haben keine Gewerkschaft», schreibt Soraperra. Wie auch: KünstlerInnen haben in der Tat nichts zu fordern; was soll man fordern — für ein Geschenk? Anerkennung, Achtung, Wertschätzung kann man weder fordern noch erbetteln. Man kann sie nur erwarten.

Und Erwartung, Hoffnung ist das, was sich durch Budgetzahlen hindurch Bahn bricht in Brigitta Soraperras Aufschrei: «Wir müssen über Verteilung reden!»

Die Antwort auf den offenen Brief waren beredte Beschwichtigung mit dem vermeintlich schlagenden Hinweis, die meisten Mit-UnterzeichnerInnen des offenen Briefs hätten von monetärer Hilfe des Landes Vorarlberg profitiert. (Dabei wäre das Gegenteil erst recht und in höchstem Maß alarmierend.) Ein Aufschrei? Schwamm drüber. Auf geht’s wieder zum Tanz um das goldene Kalb!

Es bleibt die Hoffnung, dass die Mitbeteiligten doch noch auf Stimmen wie die Soraperras hören. Denn «diese schwierige Zeit» einer Pandemie wäre auch die rechte Zeit umzudenken. Umzudenken in Bezug auf globale Lieferketten, auf den Flug in den Urlaub, auf das Schnitzel am eigenen Teller, auf den Individualverkehr, auf die Heiligkeit der Autonomie von Mann und Frau, die in den gleichen vier Wänden zusammenleben; umzudenken auch in puncto Kultur.

Kulturpolitik schafft die Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur, wird gesagt. Welche Bedingungen? Welchen Rahmen? Den Rahmen der Wiederaufbau- und Nachkriegsjahre mit ihrem Rückgriff auf die klassische Moderne vor der Hitlerei und Breugel-Reproduktionen in den Eisenbahnabteilen? Oder den Rahmen nach dem Paradigmenwechsel unter der Chiffre «1968», mit vervielfachter Förderung, Groß-Projekten und Events und vorher unvorstellbarer Professionalisierung?

Letztere Ära der Kulturpolitik hat «die Kultur» geschmiert — als Tourismusmotor. Aber ist ihre Bilanz nicht ernüchternd? Der heißerkämpfte beachtliche budgetäre Mehraufwand, hat er zu etwas Anderem geführt, als dass die Kluft breiter wurde zwischen der Minderheit derer, die lesen, ins Theater oder Konzerte oder in Museen gehen, auf gute Gestaltung im Alltag achten und — wenn sie Gelegenheit bekommen zu bauen — Wert legen auf die Qualität des öffentlichen Raums, und den Vielen, denen derlei Überflüssiges nichts zu sagen scheint?

«Die Kultur» droht zu einer spektakulären Blase zu werden. Während zugleich mehr und mehr Einrichtungen verschwinden, in denen imperfekte unrentable Kultur gepflegt wurde und wird, «Jugendhäuser» und wie sie hießen, Laienchöre oder selbstständiger lokaler Journalismus.

Eine Neuausrichtung der Kultur(politik) tut not. Diese Ahnung, ja Gewissheit steht hinter Soraperras Brief, dessen Inhalt als unverständlich, aufmüpfig und geradezu undankbar empfunden wurde.

Das machtvolle zweischneidige Geschenk der Stimme, des Körpers; die shakespearesche Artikulation der Heimtücke wie der Liebe; die Bewegung, die jedes Bild war und verlangt und jeder Stein; die Reichtümer der Grammatik und die Tragfähigkeit der Brücken zwischen den Sprachen; der Film, gedreht mit einer Schulklasse mit oder ohne oder mit rudimentärem Drehbuch, zulasten vielleicht der Vorbereitung auf die Matura, aber sicher mit Gewinn für das Leben und auch für Kino und Kinoprogramm: Welchen Rahmen braucht die Kultur, die geübt, zu der erzogen werden will?

Der offene Brief wurde im Land der Baupioniere, in Vorarlberg geschrieben. Auch hier muss man — nach Corona mehr denn je — der Spekulation, der Abrissbirne, der Geringschätzung kommunaler Planung entgegentreten, muss man das Handwerk würdigen, in den HandwerkerInnen die Freude am Einfachen wecken, an der Wiederverwendung, am Restaurieren und Recyclen, Sinn und Verantwortung für das Ganze über den Job hinaus. Sie schaffen Kultur.

Kultur, das ist auch jede einzelne Zeitungsseite mit eigenständiger Kritik und Recherche.Welches Medium leistet sie sich noch? Weiter als Thomas Bernhard (in Wittgensteins Neffe) muss unsereiner heutzutage fahren, bis man eine Zeitung findet, die es verdient gelesen zu werden.

Kultur heißt etwas Anderes als dazugehören zu einer Blase von Eingeweihten, als Konsumieren, und sei es auf internationalem Level. Das ist zu einer der letzten verbliebenen Scheinfreiheiten geworden in einer Welt, deren Profit und Wohlstand kurzsichtig sind.

Welchen Rahmen braucht die Kultur in einer schwierigen Zeit? Auf jeden Fall Einbeziehung, nicht Privilegiertheit, Professionalität und einfache Mittel; keine Spekulation, aber auch nicht Bettelei. Denn wer arbeitet, hat Anspruch auf Lohn.

Brigitta Soraperra hat einen anstoßerregenden Brief geschrieben. Mit unterschrieben hat ihn zum Beispiel Brigitte Walk. Die Vorarlberger Tänzerin, Schauspielerin und Regisseurin schafft seit Jahrzehnten auf beispielhafte Art herausfordernde, dringend notwendige Kultur mit Kindern, Geflüchteten, Menschen, die den Schönheits- und Gesundheitsnormen nicht entsprechen, in Schulen und Gasthäusern. Kultur, ohne die Ökonomie keinen Sinn hat.

— Willibald Feinig. Dieser Kommentar ist in der Wiener Zeitung am 11. August 2021 erschienen.
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Willibald Feinig
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