Seit ein Gespräch wir sind. Eröffnungsrede bei der Ausstellung von Nikolaus Walters Fotografien Kranker und auf Pflege Angewiesener. Tübingen, Hölderlinturm, 15.12.2015
Der Zwiespalt, in dem das Abendland zu versinken droht — ist das nicht der Abgrund zwischen Beobachten und Tun, zwischen Wissen und Handeln, zwischen dem feierlichen Symbol und dem statistischen Faktum, zwischen Kultur, Religion gar, und Geld, zwischen dem Bild und der Wirklichkeit? Friedrich Hölderlin hatte ihn vor Augen, wenn er auf das erlösende Lied, das Gedicht setzte, das aus tiefstem Herzen kommt und aus der Tiefe des Landes zugleich, der Welt der Sinne und Erfahrung. Er ist gestolpert, als die Umstände ihm seine Liebe entzogen, und gestürzt, als er den Zeitgeist am Werk erlebte, zu Fuß das revolutionäre Frankreich durchquerend, 1801 im Winter; er hat sich in unzugängliche geistige Sphären zurückgezogen und einen anderen Namen gegeben, durch Jahrzehnte bis zum Tod gepflegt (ausgepflegt sagt man in Österreich) in der Familie von Meister Zimmer.
Nikolaus Walter, der Fotograf aus Feldkirch, ist Jahrgang 1945, ein Kind des Krieges (wer wäre das nicht in unseren Breiten?). Mit seinem ganzen umfangreichen und zugleich geordneten Werk — heute im Besitz des Landes Vorarlberg — stellt er so etwas dar wie eine personifizierte Brücke über den Riss, der sich gähnend auftut in der westlichen Gesellschaft. In jedem Schlafzimmer, in jeder Seele, in jeder Institution — und links wie rechts ertönen immer lauter die Sirenengesänge der Ideologien und Fundamentalismen aller Art.
Walter ist in erster Linie Menschenfotograf, aber es gibt von ihm wohl kaum ein Foto, das geschossen oder sonst wie gestohlen oder erschlichen wäre, wo einer der Abgebildeten Anspruch auf Copyright erheben oder wegen Beleidigung klagen könnte. Seine Fotos erledigen niemand. Sie vermitteln einen Dialog, sie artikulieren ihn. Bei der Eröffnung der Werkschau zum 70. Geburtstag im Vorarlberg Museum und in der Vorarlberger Landesbibliothek war Nikolaus Walters Antwort auf die Würdigungen sehr kurz. Er frage sich, was aus Betty, der Dubliner Göre, geworden sei, die er 1968 mit Rotznase und aufgeschlagenen Knien zum Grand-Hotel hinauf- und nach einem Blick hinter das Glas stolz wieder absteigen sah. Oder aus seinem Freund, dem Mann mit den vielen Krawatten, dem „Original“, der nicht anders konnte als die Zunge zwischen die Lippen zu nehmen, oder aus der indischen Mutter mit dem Baby an der Brust und einem Gesicht so müde wie das der eigenen Großmutter. Das seien die Fragen, die Fotografie stellt.
Und sie zu stellen ist der Sinn der Ästhetik, der Wahrnehmung.
Eine der größten Arbeiten, die man Nikolaus Walter übertrug — er arbeitet selten anders als im Auftrag, und wenn er sich diesen selbst erteilen hat müssen, über Jahrzehnte — ist eine Serie über Kranke und auf Pflege Angewiesene und ihre Betreuer zuhause wie in Heimen. Der schwer behinderte Vorarlberger Dichter Gerhard Maria Rossmann hat ihm den ersten Titel geliehen: Reißnagelweg. Für den Tübinger Hölderlin-Turm, wo er hingehört wie selten wo, hat er diesen Titel nicht beibehalten. Zu Recht, scheint mir. Denn er beleuchtet die Sache gut, aber nur eine, die Schmerzens-Seite davon. Die andere ist aber vielleicht noch wichtiger: Jede einzelne dieser Fotografien, noch wenn ihr Thema die Verlorenheit ist, die aus den Augen Alzheimerkranker schaut, hat etwas Berührendes, ist wie eine Streichel-Einheit (man höre auf das, was sich unter der schrecklichen sozialtechnischen Oberfläche dieses Ausdrucks verbirgt).
Neben dem Leinen auf dem Pflegebett, das glatt gestrichen wird für die nächsten Stunden, bis man sie wieder wenden muss, kommt das Hochzeitsfoto der Frau ins Bild, die zum Pflegefall geworden ist, ihre Geschichte, ihr ganzes Leben. Mehr noch, geradezu herausfordernd: Die Erinnerung, schwarz auf weiß, dass ein Bett Ort der Krankheit und Hilflosigkeit ist, aber auch festlicher gemeinsamer Stunden.