Wo das Paradies liegt. Blick auf ein altes Bild in Zeiten von #metoo

Langweilig
«Etwas Langweiligeres als das Paradies kann ich mir nicht vorstellen» sagte der Firmling «dauernd nix wie Halleluja-Singen.»
Insgeheim hegt wohl jede(r) solche Gedanken — und lächelt zugleich dabei. Würde man lächeln, würde man nicht spüren, dass das «Paradies», der «Himmel», Ursprung und Ziel von allem, was ist und geschieht, menschliche Vorstellung übersteigt? Dass es sonst nicht das — Paradies wäre?
In der digitalisierten Bilderflut unserer Tage, ziemlich obenauf, treibt ein Bild, bekannt unter dem Titel «Paradiesgärtlein». Veranlassung und Urheber(in)schaft liegen im Dunkel. Schematische Hände und puppenhafte Gesichter verraten Desinteresse an Individualität, an Portraits: «Mittelalter» also, mittelalterlich auch Perspektive(n) und Größenverhältnisse, ähnlich denen von Kinderzeichnungen. Allerdings liegt um die Köpfe kein gewohnter Heiligenschein. Und vor allem sind auf dem kleinen Ölbild aus dem Städel-Museum Singvögel zu sehen und eine Fülle blühender Pflanzen, geradezu systematisch und mit Akribie dargestellt, erstmals so in der Geschichte der Kunst. Einiges deutet darauf hin, dass ein «oberrheinischer Meister, um 1420» am Werk war. Die Farben leuchten wie vor sechshundert Jahren.
Frauen bei der Arbeit
Vielleicht gut, dass man nicht viel weiß, man schaut dann genauer.
Die Bewohner dieses westmitteldeutschen Gartens Eden sind alle beschäftigt, alle gegürtet, ein paar bekrönt, mit Kronen oder Kränzen so fein, dass sie erst der zweite Blick wahrnimmt.
Die Frau im Zentrum des Bildes etwa trägt filigranes Laub aus Gold im Haar. Ein blauer Mantel deckt ihren Schoß. Obwohl im Hintergrund, ist die Lesende größer dargestellt als die anderen Menschen im geschlossenen Garten. Sie sitzt vor einem Hochbeet an einem Tisch.
Ein paar Seiten des Buches blähen sich, ein paar Zeilen sind sichtbar. In der zweiten könnte auf Hebräisch «olam» (Ewigkeit) stehen oder eine Buchstabenfolge, die laut Wörterbuch «stillen, säugen» bedeutet. (Für den Betrachter deutlich zu entziffern, das heißt in der Wirklichkeit verkehrt, aber solche Logik, die Abbildung gewohnter Wirklichkeit spielt keine Rolle in Eden.)
Zu Füßen der Hauptfigur eine Frau in rotem Kleid und weißem Mantel. Auch sie in das Werk ihrer Hände vertieft, trägt auch sie das üppige rotblonde Haar offen; die Blütenkrone darin entspricht den Schlüsselblumen, die um sie herum blühen. Sie unterweist einen Jungen im Zitherspiel: «Die heilige Cäcilia!» hört man Kenner und Eingeweihte rufen. Aber schlägt die frühchristliche Märtyrerin, zur Patronin der Musik geworden dank einer Fehlübersetzung, nicht die Orgel — selbst noch auf dem von George Sand geretteten Teppich ein Jahrhundert später? Die «frowe» in unserem Garten hält das Instrument des Königs David, eine Zither — mit vier (oberrheinischen?) Schalllöchern — und wacht über die Übungen ihres Schülers.
Von dessen Kopf gehen bei näherem Hinsehen Strahlen aus, parallel zu den Saiten des Psalters und die Linien zugleich durchkreuzend. Auch das Gras macht die Schwingung mit, in dem das Kind sitzt — gemaltes, gestricheltes Vibrato, und auch das Haar der Lehrerin (von einem großen Etymologen wurde das Wort «Weib» mit der Wurzel «vip» in Zusammenhang gebracht, für «begeistert, innerlich erregt sein»). Der dezente Nimbus in Kreuzform bedeutet wohl: Der Bub, der sich da im biblischen Saitenspiel übt, wohlgenährt, die Jausetasche am Gürtel, wird einmal der Messias sein.
Neben Lehrerin und Schüler beugt sich eine Blaugekleidete mit losem Kopftuch über einen Wassertrog: Sie schöpft um zu trinken. Trinken ist Tun. Der Boden rund um den Brunnen ist steinig, das Wasser klar bis auf den Grund, der Löffel in ihrer Hand aus Gold, ebenso die Kette daran. Gibt es etwas Wertvolleres auf Erden als Wasser? Im Paradies dient es weder als Spiegel noch als Reservoir, kann nicht faul riechen, bedrohen, überfluten oder versiegen. Im Paradies erhalten die Dinge ihre Bedeutung aus sich selbst, sind, was sie eigentlich sind. Im «himmlischen Jerusalem» braucht es weder Sonne noch Mond, sagt die Offenbarung; nichts wirft dort einen (einseitigen, verzerrenden ) Schatten. Ein Sperling wartet, bis die Frau ihren Durst gelöscht hat, er sitzt auf dem Zu- oder Ablauf, der aus dem Bild hinausführt. Auch in diesem Eck des Gartens stimmt die Perspektive nicht.
Die vierte Frau im Garten ist in Weiß gekleidet, ihr Schleier auf die Schulter gerutscht. Sie reckt und streckt sich aus, um Früchte eines Obstbaums zu erreichen und in die rote Schürze zu pflücken. Das Kirsch-Laub ist stereotyp gemalt, den Stamm des fruchtbaren Baums aber bilden zwei innig ineinandergeschlungene Äste. Der Korb zu seinen Füßen wird bald übervoll sein. Die Kirschen locken die Vögel an.
Männerrunde mit Dämonen
Wie einfach die Frauen gekleidet sind, die in ihrer Hand- und Kopfarbeit aufgehen! Kein Schmuck, kein Stoffmuster, nichts Buntes, alle zeitlos in Blau, Weiß und Rot — als wären es nicht vier Gestalten, sondern eine in vierfacher Gestalt. Wobei die Dame im Hintergrund wie gesagt größer erscheint als die drei vorne: Wollte der Maler die Bedeutung meditativen Lesens betonen?
Wie anders die Runde der Männer im verbleibenden Drittel des Gartens. Sie sind in ein Gespräch vertieft. Der Größte sitzt im Gras, in ockerfarbenem Wams, modisch geschnitten. Nachdenklich stützt er den Kopf mitsamt bizarrem Schmuck auf Arm und Knie. Flügel glänzen und schillern — er hat sie mehr dabei, als dass er sie nützt — : Ein Engel.
Der zweite Mann steht und umklammert den Stamm eines Baums ohne Früchte. Er trägt etwas Samtiges als Überwurf, Schuhwerk aus dem gleichen Material, dazu eine golddurchwirkte Stola und eine Halskrause aus dem gleichen Material: Die reine Modeschau. Der Schal könnte auf einen Diakon, auf Stephanus oder Laurentius hinweisen (Heiligenscheine fehlen, wie gesagt). Sich am Baum haltend, beugt er sich vor zu einem Ritter, wie Franz in Assisi einmal einer hat werden wollen.
Wie der Engel streckt der Ritter die Beine von sich. Er kehrt dem Betrachter den Rücken zu. Das goldene Kettenhemd ist extrem tailliert, die Beine sind geschient, die Füße rot beschuht, auf dem Kopf sitzt eine goldgelbe Sturmhaube. (Auch hier die Halskrause, damals Mode im Rheinland?) Die Hand kommt aus dem Ärmel des prächtigen Oberteils hervor und stemmt sich gegen die Hüfte. Erhobenen Hauptes sitzt er da, halb im Profil, die anderen hängen an seinen Lippen. Das Untier an seiner Seite verrät, um wen es sich bei diesem späten Ritter handelt: Um den Drachentöter Georg, den legendären Heiligen, Frauenbefreier und Märtyrer. Auf dem Rücken liegt das kleine Reptil, wehrlos und ungefährlich, und streckt alle Viere von sich, schlafend eher als von Messer, Speer oder anderer Waffe getroffen: Im Paradies fließt kein Blut, nicht einmal Drachenblut.
Und das Dunkle zu Füßen des Engels? Bei genauerem Hinsehen erkennt man einen behaarten gehörnten Affen: Ein Giftzwerg wie aus einer Mozartoper ist im Paradies aus dem Teufel himself geworden! Der Engel Fürst, Mi-ha-el Weristwiegott, hat ihn gebändigt nach der Schrift. Der Satan, der «sheitan», der ewige Ankläger, Terrorist, Intrigant, personifizierter Sporn der Macht- und Neugier, der Maßlose, der Unfriedenstifter, Schlaumeier, Profiteur, Zündler, Tabubrecher, Gewalttäter und Folterer von Anbeginn mag in der Welt mächtig sein. Wird sie zum Paradies, ist er mit seinem Latein am Ende, hat nicht mehr das letzte Wort; schier platzend vor Wut, wie mit gebundenen Händen richtet selbst er den Blick auf den Gerüsteten.
Erdbeeren locken zwischen zähneknirschendem Teufel und müdem Engel unter einem Weidenstumpf, der an einen Penis erinnert und austreibt: Im Paradies ist es März und Juli zugleich, es braucht die Abwechslung der Jahreszeiten offenbar nicht. Und die Dimensionen werden zurechtgerückt, das gilt für den Dämon wie für den Engel.
Der blühende Garten
Vielfalt der Geschäfte und der Erinnerungen im Gespräch! Jede und jeder tätig und in Bewegung, die Frauen handelnd im Hier und Jetzt, einzeln, für sich und zugleich wie eine einzige; die Männer versammelt mit ihren Geschichten, hörend, schauend, Held, Helfer, Engel und Teufel. Woher aber die geradezu sichtbare Stille, die Ruhe, die alles überwölbt und verbindet im geschützten Garten, in diesem Seminar des Lebens? Was hält die Vielfalt und Verschiedenheit zusammen?
Einmal ist da der große Tisch. Er wird benutzt — Äpfel sind da, auch geschälte, geteilte, ein halbvolles Weinglas auf dem ins Auge springenden weißen Sechseck, von oben gesehen und zugleich von vorn wie von Expressionisten.
Ähnlich das Hochbeet dahinter und die weiße Gartenmauer mit nach außen hin abfallenden Zinnen. Geometrie überall, aber nicht um die (damals neue) Perspektive zu demonstrieren, nicht um ihrer selbst willen, eher wie ein Rand, Rahmen, Kontrastmittel. — Womit wir zur Darstellung der Natur kommen, für die dieses Bild bekannt ist, bei der Flora und Fauna, wie sie im kleinen oberrheinischen Paradies Bürgerrecht haben. Genau und liebevoll ist die Blumenfülle im Garten gemalt (Baumkronen und Gras bleiben schematisch, ebenso Menschengesichter und Hände). Alle gleich gewichtig; von Schlüsselblumen und weißen Lilien angefangen über die «Ilga», die Iris sibirica, die das Vorarlberger Ried mit ihrem brennenden Blau überhaucht im April, bis zur Nessel im Eck und zum dornigen Rosenstock steht eine Blume neben der anderen. Auch im Rasen blüht es, überall Schlüsselblumen, wie gesagt, und Erdbeeren, Gänseblümchen (Osterblümlein, Tagesblume heißen sie in anderen Sprachen, pâquerettes, daisies), ein Margaritenpaar, Schnee- und Maiglöckchen, vier Löwenzahn-Kugeln am Mantelsaum der Madonna, vier Waldmeisterpflanzen am Brunntrog, und im Grün versteckt Veilchen und Vergissmeinnicht. Den Mittelpunkt des blühenden Halbrunds am unteren Bildrand bildet eine Staude voll paeonia, roten Pfingstrosen.
Noch einmal: Hier sind botanische Gesetze wie Blütezeiten außer Kraft gesetzt, auch Tagzeiten. Es gibt kein Zuviel und kein Zuwenig, es ist angenehm hell. Schriftgemäß schaden weder die Sonnenglut noch der Mond in der Nacht.
Die Vögel singen, doch wer hört
Noch einen Bogen spannt der Maler über Arbeit und Austausch der Menschen, über Blüte und Frucht. Er besteht aus bunten, kecken Punkten im tiefen Blau der Luft, aus Bälgen auf der Mauerkrone, keiner wie der andere: Es sind die Vögel des Himmels, zwölf Singvögel von Sperling, Meise, Rotkehlchen bis zu Wiedehopf und Eisvogel. —
Und die Sängerin par excellence fehlt, die Amsel? — Nein: Versteckt im Gras zu Füßen des Diakons sucht sie Nahrung, die Unscheinbare, Schwarze. —
Vögel allgegenwärtig, überall zufliegend und verborgen: Als gälte es, mit Franz von Assisi Sehen und Hören neu zu lernen. —
Und doch: Wer horcht auf den vielstimmigen Gesang in den Lüften und Zweigen?
Und blühen die Blumen in den elysischen Gefilden nicht wie umsonst, ungesehen, ungerochen, ungepflückt? Mit sich beschäftigt sind die Menschen, genauer: Versunken in ihr Tun die einen, erwartungsvoll die anderen — Individuen im wörtlichen Sinn des Wortes, ‘un(mit)teilbar’. Wie Pflanze und Tier leben auch die Menschen für sich.
Mögen sie das gleiche Gesicht tragen wie die anderen, gleiches Gewand, die gleichen feingliedrigen Finger haben: Jede Frau bleibt für sich, die Männer unter sich. Sie ernten, holen Wasser, lernen und unterrichten, lesen, reden, hängen Erinnerungen nach, vielleicht auch Hoffnungen. Aber sie bleiben allein. —
Also ist der Himmel bei aller Fülle, aller Vielfalt und Genüge, friedlich, sicher und geordnet am Ende doch beziehungsloses Nebeneinander? Sollte das liebevoll gemalte Bild, Perle des Frankfurter Museums, letzten Endes doch dasselbe sagen wollen, was ein armer Maler und Junggeselle einmal in dörflicher Bedrängnis beschworen und zugleich verwünscht hat mit den Worten: «Kein Stern stört den Andern»?
Ein tröstliches Bild für das Bleibende, Ewige? In seiner Beziehungslosigkeit nicht unähnlich der Vorstellung manchen muslimischen Manns, der sich in all dem diesseitigen Jammer und Schrecken dank Ondit und Fehlübersetzung das Jenseits als einen Ort sexueller Übererfüllung denkt?
Ich meinte, das bekannte Tafelbild zu kennen. Bis eine Zeitung damit einen Aufsatz von mir zum Thema Geschlechtlichkeit illustrierte — in Eile wohl, oder des geradezu harmlosen Nebeneinanders von Frauen und Männern auf engem Raum wegen.
Für eine kirchliche Leserschaft schreibend, war es mir darum gegangen, die Sprachlosigkeit, die Beklemmung, unselige Verdrängung und Verkennung der Sexualität in der katholischen Tradition zu überwinden, die viele Wurzeln und Gründe hat — wenige gute — , und deren verheerende Auswirkungen immer klarer werden, auch dank #metoo.
Warum scheint mir die idyllische Illustration aus dem fernen 15. Jahrhundert so wenig passend? Ich schaue mir das «Paradiesgärtlein» noch einmal an.
Unversehens, aus dem Bild heraus, trifft mich der Blick des Engels. Oder scheint es nur so? Suchen nicht auch diese Augen das gleiche Ziel wie die der übrigen Mannsbilder, erwartungsvoll bei aller Unaufgeregtheit und Erfahrung? Wohin schauen sie?
Noch einmal: Aller Männer Blick — auch der Satans, lächerlich in seiner Wut — richtet sich
auf den Ritter, der da im Eck sitzt. Was ist mit ihm? Auffällig sitzt er zwar da, fast geckenhaft, behütet und gerüstet auch ohne Waffen, dieser Georg, der Perseus hieß, bevor er, der Zeus-Sohn der antiken Mythologie, sich mit der Gestalt eines hochrangigen Militärs und christlichen Märtyrers aus Diokletians Zeiten vermischte.
Ritter Georg zeigt Profil, als einziger. Er hebt den Kopf. Wie Perseus die äthiopische Prinzessin hat dieser miles gloriosus die Königstochter in Palästina vor der Pestilenz gerettet, vor dem Drachen, vor Erpressung durch (persische) Mafia. Wie jene sollte sie geopfert werden zum Wohl des Volkes. Ovid beschreibt eindrucksvoll den grausigen Kampf mit der Bestie. Bedingung dafür, dass der Christ ihn aufnimmt, ist nicht mehr die Hand der Schwarzen, die laut ursprünglicher Sage selbst mithilft das Untier zu besiegen, sondern die Bekehrung, die Taufe von ganz Lydda (heute Lod, bei Tel Aviv). Wobei Taufe ursprünglich etwas Anderes meint als Konvention und Ritual: Neuanfang, Reinigung, Stärkung um auch das unmöglich Scheinende, Nötige zu tun, wie Georgios. —
Da liegt nun der Drache wie ein Haustier neben seinem Herrn und kann keiner Fliege mehr etwas anhaben. Und wo ist die Gerettete, Andromeda (wörtlich: ‘die über den Mann nachdenkt’)? Wo die Frau aus der antiken Erzählung, später (sehr) weißhäutig geworden und zum Vorwand der Zurschaustellung fraulicher Schönheit, nackt an den Fels gekettet, weniger Opfer des Grauens als des Voyeurismus? —
Vor den Augen der anderen Männer hat Georg etwas im Auge. Ich folge der Richtung seines Blicks. —
Er gilt der Leserin im weiten blauen Gewand.
Die Frau weicht nicht aus, scheint nicht einmal zu merken, dass man(n) sie anschaut. Die Neigung ihres Haupts mit der zarten Krone entspricht allerdings genau der Richtung des Blicks aus der Männercke.
Urbild von jemand, der bei sich ist, wie vervielfältigt in mehreren aktiven und konzentrierten Frauengestalten. Gesehen von jemand, der sich dieses Bild zu Herzen nimmt, stellvertretend für die männliche Hälfte der Menschheit. —
Wie konnte ich diese Bildachse übersehen, wie konnte ich übersehen, worum es sich im Garten Eden dreht! Die Achse beginnt im Winkel des Gartens, in der die Männerrunde sitzt, und endet im Eck der Gartenmauer, vor dem die Königin des Himmels liest, meditiert.
Wie konnte ich das klare Dichterwort vergessen: La femme est l’avenir de l’homme, die Zukunft des Manns heißt Frau?
Hier liegt ein Schlüssel zum Paradies, es könnte einem schwindlig werden, wenn man(n) ihn findet — in einem Bild.
Die Frauen, wahrgenommen von Männern, wie sie von Gott gemeint sind.
Die naturgemäß (würde Thomas Bernhard sagen) erotische Beziehung, die Freiheit lässt und erzeugt, Raum um bei sich zu sein, Entfaltung.
Der Blick, der einhüllt und schützt statt zu entblößen.
Hier wird der uralte, vor-christliche, oft voyeuristisch missbrauchte Mythos weitererzählt: Die Frau, «mit nichts bekleidet als sich selbst» (um mein Gedicht Salbung zu paraphrasieren, Pardon), eser, langersehnte Hilfe (Gen 2,20), hat ihrerseits die Hilfe des gerechten, emanzipierenden männlichen Blickes nötig.
Gebannt wartet die (Männer)Welt, Teufel wie Engel, Hilfsbedürftiger und Kämpfer auf diesen Löser-Blick, der aus dem Herzen kommt. Er verbindet Himmel und Erde, erschließt den Garten Eden mit seinem Geheimnis, in dem keine und keiner zu kurz kommt. — Die Männerwelt? Wenigstens die, deren abgestumpften Sinnen und machttauben Gedanken die Vision des Paradieses für alle nicht fremd geworden ist.
Es gibt menschliches Erkennen über den elektrischen Zaun des Geschlechts hinweg, das Verschiedenheit mit Verschiedenheit vereint.
Blicke können tödlich sein, rauben, zerstören, reuen am Ende. Der Blick der Zuwendung kann selbst den Ort der Hinrichtung, KZ und Galgen zum Vorhof des Paradieses machen. Der zum Tod Verurteilte, der Verbrecher, der sich dem Opfer des Justizmordes an seiner Seite zuwendet, was hört er aus dem Mund Jesu? — «Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein.»
Der verbindliche Blick
Die Angesehene, heimliche Königin im Garten Eden, bleibt freilich bei ihrer Lektüre. Der Maler erweckt den Anschein, als blieben Männer- und Frauenwelten getrennt auf ewig. (Vielleicht war es schon eine Malerin unerhörterweise — immerhin liegt Hildegards Kloster am Rhein und noch weiter rheinabwärts hatten sich damals längst Frauen zusammengefunden in tätiger, karitativer Gemeinschaft.)
Der Eindruck täuscht. Der Abstand — kein klaffender Abstand, ein selbstverständlicher — geht im Bild nämlich durchwegs einher mit Berührung: Im «Paradiesgärtlein» sind alle Menschen auf malerische Weise sorgsam und diskret miteinander verbunden:
Der Kopf des eifrig übenden Kindes rührt an den Gewandsaum der Lesenden.
Offenkundig die Verbundenheit der Männer untereinander, alle auf ein Ziel ausgerichtet. Aber auch jedes Kleid jeder der autarken Frauen streift anderes Frauengewand.
Besonders fein sinnlich wird die Brücke zwischen den Geschlechtern geschlagen: Eine kaum sichtbare Stoffbahn, in Spitzen auslaufend, überquert den Tisch, führt vom weiten blauen Mantel zum beflügelten Mann.
Und nun sehe ich noch etwas: Dieses sehr iridsche Paradies ist zwar von einer Mauer umgeben — aber Innen und Außen entsprechen sich. Der Baum, an dem sich der Mann hält, ist der gleiche wie der Baum, der über die Gartenmauer schaut. Die Vögel davor und dahinter singen dasselbe Lied. Über dem Garten Eden ist das Blau der Himmels das gleiche wie das Blau des Frauen- (und Engel)Gewands.
Das Paradies beginnt im Kleinen. Im Garten. In meinem Garten.
Warum sollte es außerhalb des Paradieses anders zugehen als innerhalb?
Rechter Abstand ist Voraussetzung vertrauter — paradiesischer — Nähe.
Im Paradies herrscht alles andere als Beziehungslosigkeit.
Auch Männer reden vertraut miteinander, und muten einander Großes zu — im Paradies.
Das Paradies der Menschen liegt dort, wo der Mann die Frau erkennt und anerkennt über Grenze und Magnetismus des Geschlechts hinweg.
In solchem Paradies der Achtung erblüht und erklingt die Natur, Flora und Fauna.
Ist der Mensch bei sich und damit beim andern, steht er mit der Natur im Einklang.
Die Waffen von Verdacht und Misstrauen, der Teufel der Prüfung und des Vergleichs und der Drache der Gier haben nichts im Paradies verloren — außer, man zähmt sie.
Es ist genug für alle da im Paradies, zu essen und zu trinken. Aber es will geschöpft und geerntet sein.
Arbeit und Ruhe, Mühe und Genießen sind keine Widersprüche in der Schöpfung, wie Gott sie schuf.
Im Paradies überbrückt Lernen den Graben der Generationen, Hingebung von beiden Seiten.
Musik lässt Geist und Sinne miteinander tanzen.
Im Himmel ist Platz für jede und jeden, keiner stellt den anderen in den Schatten, und alle stehen in Beziehung zueinander.
Im Paradies schaut man nicht auf die Uhr. Eden ist zeit-los.
Was einen ein Maler des Spätmittelalters lehrt in Zeiten von #metoo: Im Himmel wäre es langweilig, wenn der Himmel nicht beginnen würde auf Erden.